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Heinrich C. Mayr - Meine Zeit als EMISA Sprecher (1979 - 1982)

Heinrich C. Mayr, Universität Klagenfurt

Wie es begann

Ende der siebziger Jahre, die GI war gerade 10 Jahre alt geworden, bekannten sich immerhin rund 2000 Mitglieder zu ihrer Fachgesellschaft und dies großenteils sehr aktiv: Mitgliederversammlungen waren damals riesige Ereignisse mit Hunderten von Teilnehmern. Vor allem die Fachausschüsse (Fachbereiche wurden erst später eingeführt) konnten die vielfältigen Interessen und Aktivitäten ihrer Mitglieder organisatorisch nicht mehr ohne zusätzliche Strukturen bewältigen. So kam die Idee auf, Untergliederungen, genannt Fachgruppen, einzurichten, die sich jeweils einem engeren Themenbereich widmen sollten.

Die ersten Fachgruppengründungen erfolgten dementsprechend durch Fachausschussleitungen, die damals hauptsächlich aus Universitätsprofessoren und einigen Führungspersönlichkeiten aus der Praxis bestanden. Die heutigen Fachgruppen 2.1.1 und 2.5.1 sind ein Beispiel hierfür. Ihre Gründung verlief recht unproblematisch, waren die Promotoren doch durchwegs weithin bekannte Persönlichkeiten mit direktem Draht zum Präsidium.

Ganz anders im Fall der EMISA. Zum einen schien man damals im "Rat der Weisen" die über Datenbanksysteme hinausgehenden Belange von Informationssystemen noch nicht für sonderlich relevant zu halten. Das war ja auch für einen gestandenen "Praktischen Informatiker" ein eher schillerndes Gebiet, in dem einerseits nichttechnische, organisatorische und gestalterische Fragestellungen zu behandeln waren und in dem andererseits die Modellierung und die Methodik und nicht die Implementierung im Vordergrund standen.

Zum anderen kam die Idee zu einer hierauf ausgerichteten Fachgruppe "von unten", nämlich von zwei Assistenten, die sich auf einer Veranstaltung getroffen hatten – dem mir inzwischen zum guten Freund gewordenen Bernd E. Meyer, heute erfolgreicher Unternehmer und FH-Professor in Heilbronn, und mir. Er war seinerzeit Assistent bei Prof. Hans-Joachim Schneider in Berlin und ich war Assistent bei Professor Lockemann in Karlsruhe. Um es gleich und voller Dank zu sagen: ohne die massive Unterstützung dieser unserer "Chefs" hätten wir unsere Idee nie umsetzen können. Denn dass zwei Grünschnäbel eine derartiges Vorhaben in die "Professoren-GI" einbrachten, war damals noch reichlich revolutionär. Dementsprechend stark war auch die Gegenwehr des Präsidiums. Wenn ich mich recht erinnere, waren insgesamt fünf Präsidiumssitzungen erforderlich, bis unsere Fachgruppe endlich auch formal bestätigt und ein Name gefunden war, dem niemand mehr widersprach. Wir hatten zunächst die Bezeichnung "Formale Modelle für Informationssysteme" vorgeschlagen und dann "Methoden und Modelle für die Entwicklung von Anwendungssystemen". Irgendwann wurden wir aber kurzerhand par ordre de Präsidium in "Entwicklungsmethoden für Informationssysteme und deren Anwendung" kurz EMISA, umbenannt. Uns war das letztlich nicht so wichtig wie die formale Einrichtung der Fachgruppe, die damit endlich verbunden war.

Denn in der Zwischenzeit hatten wir schon einige Aktivitäten gestartet, insbesondere Veranstaltungen, die alle sehr erfolgreich waren: Allein zur Gründungsveranstaltung in Tutzing, damals noch im Tanzsaal eines alten Gasthofes mit knarrenden Dielen und urigem Ambiente, kamen über hundert höchst diskussionsfreudige Teilnehmer. Im Folgejahr wechselten wir dann in die Evangelische Akademie mit ihrem wunderbaren runden Auditorium, das Diskussionen geradezu automatisch entstehen ließ, konnte doch jeder jedem ins Auge sehen. Dazu kam die Lage unmittelbar am Westufer des Starnberger Sees, an dem und auf dem die Diskussionen fortgesetzt wurden. Ich erinnere mich noch an einen Abend, an dem wir – nach einem ausgiebigen bayrischen Buffet – bis weit nach Mitternacht um Carl Adam Petri saßen, begeistert von seinen feinsinnigen und in jedem Wort überlegten Ausführungen. Diese Veranstaltungen in der Evangelischen Akademie wurden in der Folge fast zur Tradition. Schade, dass die Kosten- und Terminsituation heute meist zu anderen Veranstaltungsorten zwingt.

Nicht aufgeben sollten wir aber die Tradition intensiver Diskussionen und insbesondere die von Anfang an verfolgte Strategie, in der EMISA Wissenschaftler und Praktiker zusammenzubringen. Informationssysteme kann man schließlich nicht im Elfenbeinturm planen, umgekehrt scheitert ihre Realisierung, wenn sie nicht mit fundierten Methoden geplant und implementiert werden.
 

Wo wir heute stehen

Immer wenn diese Integration von Theorie und Praxis besonders gut gelungen war, war auch der Mitgliederzuspruch am höchsten. Mit rund 2500 Mitgliedern zu ihrer besten Zeit war EMISA sogar schon einmal die zweitgrößte Fachgruppe der GI überhaupt. Aber auch heute ist sie mit ihren rund 1700 Mitgliedern immerhin noch an 4.ter Stelle. Wobei das Potential sicher noch größer wäre, wenn wir noch stärker auf die Interessen der ja mittlerweile mehrheitlich in der Praxis tätigen GI-Mitglieder eingingen und diese auch herausfordern würden. Hier scheint mir eine gewisse Alterung eingetreten zu sein – besonders jugendlich, unbekümmert oder gar provokativ, wie es einer zwanzigjährigen zukäme, sind wir derzeit nicht.

Auch haben wir in unserem Gebiet zwar einiges vorangebracht, unsere Hausaufgaben sind aber noch nicht erledigt. Im Vorwort zum Tagungsband der EMISA-Gründungsveranstaltung 1979 waren diese Aufgaben folgendermaßen formuliert:

"Die ständig wachsende Komplexität betrieblicher und soziotechnischer Informationssysteme berührt heute bereits die Grenzen unserer Planungskapazität. Ein formal abgesichertes Instrumentarium für die Planung, den Entwurf und für den Betrieb solcher Systeme ist daher unbedingt erforderlich. So werden z.B. Methoden zur Ermittlung der an ein Informationssystem zu stellenden Anforderungen gebraucht, ebenso formale Modellierungskonzepte zu seiner Beschreibung, Spezifikation und Analyse, schließlich auch Techniken zur Bewertung seines Verhaltens. Es gibt bereits eine ganze Reihe interessanter Ansätze zu diesem Instrumentarium ... Eine zusammenhängende Methodologie, die gleichzeitig allen Anforderungen der Praxis gerecht würde, existiert allerdings bislang noch nicht ..."

Mit einer etwas modernisierten Wortwahl könnte man diesen Text auch heute noch ganz gut als Einleitung eines Call for Papers zu einem Workshop oder einer Tagung verwenden: Zwar ist in der Zwischenzeit eine unüberschaubare Vielzahl von Modellierungs- und Darstellungskonzepten und Methodenansätzen in die Publikationsorgane gesprudelt, von einer umfassenden Konstruktionslehre für Informationssysteme sind wir aber immer noch weit entfernt.

mmerhin haben sich die damals bereits diskutierten Modellierungskonzepte inzwischen gefestigt und sie sind enger aufeinander abgestimmt worden: Heutige objektorientierte Modellierungsmethoden inklusive der Modellierungssprache UML verwenden zur Modellierung statischer Gegebenheiten die Konzepte des seinerzeit hochaktuellen und inzwischen in ungezählten Varianten um Abstraktionsbegriffe (Generalisation, Aggregation) u.a. erweiterten Entity-Relationship-Modells. Und sie leisten eine mehr oder weniger konsistente Integration mit Konzepten zur Modellierung dynamischer Aspekte wie endliche Automaten (heute als "state charts" getarnt) oder Transitionsnetze, die damals noch getrennt betrachtet wurden. Auch haben die vielfältigen Beiträge zur Metamodellierung, zum Wesen von Ontologien und zur Rekonstruktion von Modellierungsbegriffen in Orthosprachen das Verständnis der Modellierung an sich vertieft und ihr Instrumentarium erweitert. Und schließlich ist insbesondere im Zusammenhang mit UML ein wesentlicher Schritt in Richtung der für die Praxis so wichtigen Standardisierung erfolgt.

Allerdings scheint man auch bei UML wieder einmal der Versuchung nicht widerstehen zu können, jedes nur denkbare Detail zu berücksichtigen. Ein solches Vorgehen birgt aber die Gefahr nicht orthogonaler Konzepte, insbesondere wenn anwenderdefinierbare Erweiterungen möglich sind. Daß dies kein neues Problem ist, zeigt ein Blick EMISA Forum 1/88 in dem Helmut Thoma schrieb: "Methoden von allzu barocker Üppigkeit zu befreien, einen Kompromiß zwischen Korrektheit, Vollständigkeit, Verständlichkeit und sonstigen weiteren Faktoren zu finden, dem anvisierten Ziel möglichst nahe zu kommen: Dieses sind die Aufgaben der Praxis."
 

Wohin wir uns bewegen sollten

Hier scheint mir ein Ansatzpunkt für die weitere EMISA-Arbeit zu liegen: Wir sollten uns stärker in die Diskussion und Entwicklung neuer Standards einschalten und dies nicht anderen überlassen, die das meist aus einer viel engeren Perspektive tun.

Darüber hinaus sollten wir das Thema Modellierung viel massiver besetzen – auch in der Diskussion über entsprechende Lehrinhalte an Fachhochschulen und Universitäten. Dasselbe gilt für das Gebiet der Informationssysteme als Ganzes – EMISA-Empfehlungen für Hochschul-Curricula und Weiterbildungskurse kommerzieller Anbieter könnten hier einen wichtigen Akzent setzen.

Wir müssen die "Neue Medien" und die Globalisierung der Informationssysteme zusammen mit ihren Auswirkungen aus Modellierungs- und Methodensicht thematisieren, etwa durch EMISA-Veranstaltungen zum Thema XML, zum Thema Suchagenten und Schema-Standardisierung für den Zugriff auf beliebige Informationsbestände, zum Wiederaufleben des Information Retrieval auf globaler Ebene.

Um das zu erreichen, müssen wir junge Leute motivieren und ihnen auch den nötigen Freiraum schaffen – im Leitungsgremium, in neuen Arbeitskreisen. Wenn uns das gelingt, dann ist die EMISA blutjung und ich kann mich darauf freuen, in zwanzig Jahren wieder etwas zu ihrem Alter zu sagen – wenn ich selbst dann dazu noch in der Lage bin ......

Klagenfurt, im Juli 1999
Heinrich C. Mayr

Institut für Wirtschaftsinformatik und Anwendungssysteme
Universität Klagenfurt