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Helmut Thoma - Meine Zeit als EMISA Sprecher (1990 - 1994):

Überführung aus der Phase der Aufbruchs in eine verstärkt reglementierte Fachgruppe

Helmut Thoma, Basel

EMISA aus der Sicht des Fachgruppen-Sprechers

1990 war ich nach dem Rücktritt von Georg Lausen als damaliger Sprecher der EMISA in der Funktion seines Stellvertreters zunächst kommissarisch und nach der Wahl eines neuen Leitungsgremiums von 1991 bis 1994 als Sprecher für die Führung der EMISA verantwortlich.

Ende der achtziger und anfangs der neunziger Jahre waren die Zeiten für die Leitung der EMISA – übrigens 1979 gegründet und damit eine der ältesten Fachgruppen in der GI – einigermaßen turbulent. Da in jener Zeit jedes Mitglied der GI mit der Bekanntgabe seiner Interessensgebiete automatisch der entsprechenden Fachgruppe zugewiesen wurde, für die er votierte, hatte die EMISA 1991 bei der Mitgliederversammlung in Marburg ca. 3700 Mitglieder. Bei dieser grossen Anzahl mussten wir aus Kostengründen die Erscheinung des Mitteilungsheftes einstellen; EMISA finanzierte bis Mai 1989 in lockerer Reihenfolge 12 Nummern aus dem Gewinn früherer Tagungen – dies ohne die Existenz von Internet, Word- oder PDF-Files.  

An der Mitgliederversammlung vom 11. April 1991 in Marburg wurde deshalb einstimmig beschlossen, einen jährlichen Mitgliedsbeitrag einzuführen, in dem auch die Kosten für das Mitteilungsblatt und für die Teilnahme an Fachgruppentreffen (nur für EMISA-Mitglieder zugänglich) enthalten waren. Als Folge davon traten dann etwa 1000 Personen aus EMISA aus, so dass wir ab 1992 mit etwa 2700 Mitgliedern und der Herausgabe von zwei Nummern des „EMISA FORUM“ jährlich und mit neuem Reglement weitermachen konnten. Das EMISA FORUM hat übrigens seine damals bestehende Form und Regelmäßigkeit des Erscheinens bis heute beibehalten.

Was habe ich EMISA in meiner Zeit als Sprecher gebracht? Ich lasse auf diese Frage meinen Nachfolger Gottfried Vossen sprechen, der ab 1995 Sprecher der EMISA war. Er führte in seinem Editorial zum EMISA FORUM 1995/1 aus, dass unter meiner Leitung EMISA als Fachgruppe reaktiviert werden konnte und dass das EMISA FORUM zu einem regelmässig erscheinenden und interessanten Mitteilungsblatt wurde. Ferner stellte er fest, dass durch zahlreiche Fachveranstaltungen – teils unter Mitwirkung anderer Organisationen – EMISA zu einer der aktivsten Gruppierungen innerhalb der GI geworden sei.    

Durch eine intensivierte Tätigkeit in der Schweizer Informatik Gesellschaft (SI) und durch neue Projekte in meiner Industrie-Praxis verlor ich ein wenig den Kontakt zu den Veranstaltungen von EMISA, nicht jedoch zu ihren Aktivisten. Ich gründete und leitete eine Fachgruppe in der SI, war von 1992 bis 1996 Präsident der SI und vertrat die SI bis 2007 im „Strategiekreis Informatik – i12“ (Arbeitskreis mit Spitzenvertretern von Informatik-Gesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz). Unter anderem traf ich auf Sitzungen manchmal auf meinen EMISA-Nachfolger Gottfried Vossen und den EMISA-Gründer Heinrich C. Mayr; sie als Repräsentanten der GI, ich als solcher der Schweizer Informatik Gesellschaft. Zudem war ich intensiv eingebunden in ein Projekt des Strategiekreises Informatik, die „Bildungsinitiative Neue Medien“. Die Frage war, der in diesem Projekt nachgegangen wurde: Wissen und Lernen – Was trägt die Informatik zum Unterricht bei? Ich bitte um Verständnis, dass ich deshalb nach dem hier betrachteten Zeitraum 1990 bis 1994 kaum mehr aktiv bei EMISA auffiel.
 

Themen, die damals bei der EMISA im Vordergrund standen

Die EMISA hatte sowohl Mitglieder aus der Informatik-Forschung und -Lehre an Universitäten und Fachhochschulen als auch aus der Entwicklung sowie der Anwendung von Systemen in der Informatik-Praxis. Somit sind die primären Interessen, das Wissen und das Verständnis eines Mitglieds nicht immer gleich wie diejenigen von anderen Mitgliedern. Meines Erachtens setzt jedoch die erfolgreiche Umsetzung von Entwicklungs-Methoden für Informationssysteme in die Praxis und deren Anwendung ein Verständnis für die methodischen Grundlagen voraus. Forscher und Lehrer sollten jedoch auch daran interessiert sein, ob ihre Ansätze und ihre Konzepte in der Praxis implementierbar sind. Ein gewisses Unbehagen von EMISA-Mitgliedern wurde jedoch mit dem Wunsch geäussert, dass der Praxisbezug für Werkzeuge, Methoden und Anwendungen nicht verloren gehen sollte.          

Es war im betrachteten Zeitraum bereits nicht ungewöhnlich, dass sich Mitglieder der EMISA an VLDB-, ER- und BTW-Tagungen aktiv beteiligten. Von 1990 bis 1994 hatten oftmals Tagungen und Workshops von EMISA – häufig auch zusammen mit anderen Fachgruppen – sowie Beiträge im EMISA FORUM Bezug zu folgenden Themen-Bereichen (einige Beispiele von Themen sind nachfolgend aufgeführt):

Zu neuen Paradigmen, z. B.

  • Neue Paradigmen in Informationssystemen und Datenbanken: Deduktion, Verteilung, Objektorientierung

Zur Objektorientierung, z. B.

  • Formale Modelle für Objektorientierte Datenbanken
  • Konzeptueller Entwurf von Objektsystemen
  • Objektorientierte Methoden für Informationssysteme
  • Spezifikation von Informationssystemen als Objektsysteme

Zur Benutzerorientierung, z. B.

  • Benutzerorientierung beim Entwurf von Informationssystemen
  • Unternehmensweite Modellierung von Anwendungssystemen
  • Softwareentwicklung und Simulation – eine integrierte Methodenkette
  • Konzepte zu Erweiterungen des Entity-Relationship-Modells

Zur System-Qualität, z. B.

  • Aspekte der Qualitätssicherung
  • Integritätszentrierter Datenbankentwurf
  • Formale Grundlagen für den Entwurf von Informationssystemen
  • Vorgehensmodelle und Methoden zur Entwicklung komplexer Softwaresysteme

Zur Künstlichen Intelligenz und zu Petrinetzen, z. B.

  • Informationssysteme und Künstliche Intelligenz
  • Petrinetze und Informationssysteme

Zu Geschäftsprozessen (ab 1994), z. B.

  • Modellierung von Geschäftsvorfällen und –prozessen
  • Management von Geschäftsprozessen

Für einige Fachgruppen-Treffen sind die Teilnehmerzahlen dokumentiert. So hatte das Fachgruppentreffen im Februar 1992 an der Universität Ulm zum Thema „Unternehmensweite Modellierung von Anwendungssystemen“ über 230 Teilnehmer.
Am Fachgruppentreffen im Oktober 1994 an der Universität Münster zum Thema Geschäftsprozesse nahmen über 200 Personen teil. Von den Fachgruppentreffen 1991 an der Universität Marburg und von 1993 konnte ich keine Teilnehmerzahlen mehr ermitteln; sie waren nach meiner Erinnerung aber auch von etwa 200 Teilnehmern besucht.
 

Sicht der Auswirkungen in die Praxis

Seit 1979 war ich nach Studium und Assistenzzeit in erster Linie in der Praxis tätig: Im IT-Bereich eines Chemie-Unternehmens, später in einem IT-Dienstleistungs-Unternehmen, beide weltweit aktiv. Meine Tätigkeiten in Informatik-Gruppierungen wie EMISA, GI, SI etc. sowie meine Lehraufträge an der Universität Basel etc. konnte ich nur dank des Verständnisses und des Entgegenkommens meiner industriellen Arbeitgeber durchführen. Somit war und bin ich nicht nur an der Forschung und den Konzepten der Informatik, sondern auch an deren Umsetzung in die Praxis interessiert.

Meine Erfahrungen in der Praxis arbeitete ich in einer Vorlesung für Studierende an der Universität Klagenfurt sowie in einem Beitrag zum Rundbrief WI-MAW (FB Wirtschaftsinformatik der GI), Heft 1/2010 auf. In diesem Beitrag zum Jubiläum von EMISA versuche ich, Feedback aus der Praxis für einige EMISA-Themen zu geben.

Man mag es kaum für möglich halten, aber die Prozesse für die Entwicklung von Applikations-Software sind auch nach Jahrzehnten von Schulungen und der Tätigkeit wissenschaftlicher Organisationen – z. B. von EMISA – bei ihrer Umsetzung in die Praxis noch immer problembehaftet.

Weshalb sollte eine Entwicklungs- oder Betriebsorganisation Prozeduren zur Verbesserung der Software-Qualität einleiten und aufrecht erhalten wollen? Meine Erfahrung zeigt hauptsächlich die Anforderung von wichtigen Kunden oder der Druck des Marktes als motivierende Gründe. Kaum ein Grund ist die Einsicht und das Wissen des verantwortlichen Managements, dass eine Verbesserung der Prozesse zur Applikations-Entwicklung und deren nachhaltige Umsetzung billiger seien, als mit der „angestammten“ Arbeitsweise weiterzufahren.

Ursächlich für Mängel beim Einsatz von Entwicklungs-Prozessen in der Praxis ist vielfach das Delegieren der operativen Zuständigkeit für die Software-Qualität an untergeordnete Organisations-Einheiten mit mangelhaftem Wissen, zu geringer personeller Ausstattung oder mit unklaren Verantwortlichkeiten. Jedoch sollte sich die Unternehmensleitung selbst für die Qualität verantwortlich fühlen und diese auch überwachen. Dies zeigt auch meine Erfahrung mit nicht erfolgreich und erfolgreich durchgeführten Projekten zum Erreichen des CMMI Maturity Level 5. Nicht die Frage eines verwendeten Prozessmodells ist entscheidend – ob beispielsweise phasenorientierte oder agile Methoden eingesetzt werden. Entscheidend ist, ob die Ziele und die Bedingungen eines Qualitäts-Standards erreicht und über den Zeitpunkt der Standardisierung hinaus auch eingehalten werden. Und hierfür sollte die Verantwortung hierarchisch hoch angesiedelt werden. Selbstverständlich müssen auch notwendige Fachkenntnisse der Entwicklungsprozesse, deren Anwendung und die Dokumentation ihrer Ergebnisse für alle betroffenen Mitarbeiter geschult und auf aktuellem Stand gehalten werden.

In Projekt-Gruppen bei Informatik-Projekten gehen Menschen miteinander um. Die Ergebnisse der Arbeit werden somit auch in der Informatik wesentlich beeinflusst durch nichtsprachliche Anteile der Kommunikation, durch Sympathie oder Antipathie zwischen Mitgliedern eines Teams. Konstruktives Miteinander und destruktives Gegeneinander haben nicht selten einen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe. Es ist erwiesen, dass die Kommunikation in einem Team sprachliche und nichtsprachliche Anteile enthält; manchmal kann eine Nachricht ein einziger Blick, ein einziges Wort sein. Die eigentliche Botschaft einer Nachricht ist somit nur ein Teil der Kommunikation. Implizit in einer Nachricht enthaltene persönliche Selbstdarstellungen sowie die Einschätzung der persönlichen Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern ist häufig der bedeutsamere Teil einer Nachricht.

Jedes Arbeitsteam definiert durch das Verhalten zwischen den Mitgliedern automatisch eine Struktur. Wir müssen dabei die formale Struktur mit formalen Beziehungen (z.B. Unterstellungsverhältnisse) von der informellen Struktur mit den informellen (z.B. emotionalen) Beziehungen unterscheiden. Für das Verhalten der Individuen in einer Gruppe oder Teilgruppe sowie zu Mitgliedern einer anderen Gruppe sind die Qualität (z. B. Sympathie, Antipathie) und die Stärke der Beziehungen massgebend.

Interessant und für Manchen erschreckend ist, dass eher die informellen Strukturen das Verhalten der Gruppenmitglieder und damit den Erfolg einer Teamarbeit bestimmen. Meine Erfahrungen mit Projektgruppen reichen von einer konstruktiven Zusammenarbeit mit hervorragenden Ergebnissen bis zu einer Projektgruppe, in der derart zerstrittene Mitglieder das ganze Projekt „an die Wand“ fahren konnten.

Ich begrüsse deshalb sehr, dass EMISA nach meinem Einsatz als Sprecher auch sozialwissenschaftliche Themen und Fragen des Managements aufgriff.